Nach dem Beitrag zu möglichen Vorteilen, schaue ich heute mal genauer auf die Nachteile von Synästhesien.
Vorweg der Hinweis:
Jeder Synästhetiker nimmt seine Synästhesien anders wahr. Die folgenden Punkte können also für einen Synnie als Nachteil gesehen werden, müssen aber nicht.
Los geht’s:
Allgemeine Nachteile
Mit allgemeinen Nachteilen ist gemeint, dass diese unabhängig von einer spezifischen Synästhesie-Art auftreten. Auf die spezifischen gehe ich weiter unten ein.
1. Ein starker synästhetischer Eindruck kann überwältigend sein
In vielen Fällen kann ein starker synästhetischer Eindruck die Konzentration oder den Denkfaden so stören, dass man abgelenkt oder innerlich unterbrochen wird.1
Ein Beispiel, das mir in einer Prüfungssituation passiert ist:
Der Prüfer links gegenüber von mir hatte einen Kugelschreiber in der Hand. Die Feder drückte er in unregelmäßigen (!) Abständen immer wieder auf und ab. Dieses Klicken war als Bild so riesig, dass es mein eigenes Sprachbild überlagerte und ich jedesmal meinen Gedankenteppich verlor. Mir gelang es nicht, mich nur auf die entscheidende Wahrnehmungsebene zu konzentrieren.
Durch meine Anspannung waren alle Antennen irgendwie offen. Diese Klick-Bilder des Kugelschreibers waren von riesigem Ausmaß. Viel größer als wenn ich das Geräusch einfach nur im Alltag wahrgenommen hätte.
Natürlich kennen das auch Nicht-Synästhetiker. Etwas ist so störend, dass die Konzentration unterbrochen wird. Dazu gibt es einen interessanten kurzen Artikel auch für Nicht-Synnies.
Für Synästhetiker sind es aber oft weitaus subtilere Reize, die eine solche Unterbrechung hervorrufen können. Es kann sein, dass mehrere Wahrnehmungsebenen um Aufmerksamkeit buhlen. Auf diese Weise können auch Situationen entstehen, die so überwältigend sind, dass es auch mal brenzlig werden kann.
Eine Synästhetikerin hat zum Beispiel bei einem Treffen einmal erzählt, dass der Duft von Kaffee charakteristisch bei ihr ein Blauton hervorruft. Diese blaue Farbe überdeckte dann das untere Drittel ihres Sichtfelds. Die Projektion war so dicht, dass sie in dem Bereich tatsächlich nichts mehr sehen konnte. Die volle Sicht hatte sie erst wieder, wenn sie den Kaffee nicht mehr roch. Im Straßenverkehr ist so was sicherlich keine angenehme Situation.
2. Allgemeine Überreizung
Hier meine ich in Abgrenzung zu Punkt 1 das Aufnehmen vieler Reize über einen längeren Zeitraum.
Typisch wären zum Beispiel Parties, Großveranstaltungen, Disko-Besuche, ein Shopping-Nachmittag. Situationen also, in denen zahlreiche Reize und Informationen auf einen einprasseln und denen man sich nicht so leicht entziehen kann. Diesen Punkt nennen viele Synnies als Nachteil.
Bei mir betrifft das vor allem den Bereich des Hörens. Wenn etwas im Übermaß ankommt. Akustisches Dauerfeuer eben.
Also viele und laute Geräusche, Stimmengewirr, dröhnende oder sich überlappende Musik, Straßenverkehr, heller klirrender Lärm oder sehr viele unterschiedliche Geräusche zusammen auf einmal.
Ich sehe die entsprechenden synästhetischen Bilder dazu. Je lauter die Geräusche, desto größer sind die Bilder. Sie kommen dann auch mal sehr nah an meinen Körper oder durchdringen mich sogar. Das kann unangenehm sein.
(Hier meine ich nicht eine eventuelle Hochsensibilität, sondern das Synästhesie-Typische, in meinem Fall: das Zuviel an Bildern)
Erholung planen
Natürlich gehe ich einkaufen, möchte Freunde treffen oder mal ein Konzert besuchen. Das mache ich auch. Aber ich kann die Häufigkeit von anstrengenden Aktivitäten beeinflussen und mir auch bewusst Zeit einplanen, die ich mir danach nehme, um Reize wieder abzubauen und mich zu erholen.
„Reize abbauen“ habe ich das auch als Jugendliche schon für mich genannt. Da starre ich dann schon mal einige Zeit lang nur die weiße Wand an und gucke. Das ist wie eine Art Fernsehen, ein Nachbetrachten. Die Bilder können dann (nochmal) kommen und wieder gehen. Und das tut gut.
Heute achte ich mehr auf mich als früher. Trotzdem habe ich auch mal schlechte Tage oder es ist einfach zu schön, um schon zu gehen.
Dann brauche ich schon mal ein paar Tage, um mich wieder herzustellen. Das lässt sich in der Regel aber gut planen. Oder ich sage Termine eben ab, weil ich eine Verabredung mit mir selbst habe und die Zeit brauche.
Bei anderen Synnies können natürlich andere Synästhesien im Vordergrund stehen: Jemand, der Gerüche als Berührungen spürt oder jemand, der Bewegungen hören oder schmecken kann.
Es gibt so viele Möglichkeiten, wenn man sich die verschiedenen Synästhesie-Arten anschaut!
Wie sehr mich stressige Situationen mitnehmen, hängt natürlich auch von der Tagesverfassung ab. Zumindest ist das bei mir so. Wenn ich fit, ausgeschlafen und in positiver Stimmung bin, vertrage ich anstrengende Situationen einfach besser. Reize treffen mich mehr oder schneller, wenn ich mich nicht fit fühle. Das dürfte aber bei den wenigsten Menschen anders sein ;- )
3. Es herrscht Erklärungsbedarf
Positiv ist, dass das Phänomen der Synästhesie in der Gesellschaft immer bekannter wird. Die Leute haben vielleicht schon mal irgendwo davon gehört oder gelesen. Trotzdem hat sich nicht jeder eingehender damit beschäftigt, bzw. kann sich vorstellen, was Synästhesie eigentlich ist.
Dazu kommen die vielen verschiedenen Ausprägungen. Selbst unter Synnies mit derselben Synästhesieform gibt es so gut wie nie die gleichen Wahrnehmungen.
Wenn ich mich „oute“ oder unbewusst im Gespräch etwas Synästhetisches einfließen lasse, muss ich es meistens erklären.
Das mache ich gerne, wenn wirkliches Interesse besteht. Manchmal merke ich aber auch, dass mein Gegenüber gerade darüber grübelt, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.
Damit kommen wir zum nächsten Punkt..
4. Einsamkeit und Fremdheitsgefühl
Das ist wahrscheinlich das Schöne und Befreiende an Synästhetiker-Treffen:
Du kannst einfach drauflos erzählen und keiner schaut Dich komisch an. Ganz egal, ob Du gerade begeistert erklärst wie der Name Deiner Schwester schmeckt und warum Du einen bestimmten Spülschwamm so toll findest.
Oder wie Du Dich einen Nachmittag in ein Kämmerlein gesperrt hast, um die exakten Töne von einer Käsesorte herauszufinden und zu notieren (ein kleiner Gruß ;))
Vor allem Kinder teilen ihre Eindrücke gerne und oft mit ihrem näheren Umfeld. Und sie gehen davon aus, dass auch andere die Welt so sehen wie sie.
Wenn sie wegen ihrer Wahrnehmungen häufig auf Unverständnis stoßen oder sogar für durchgeknallt gehalten werden, wägen sie irgendwann ab, ob sie etwas von sich erzählen. Sie werden vorsichtiger.
Manche Kids machen eine Art Freundschaftstest daraus:
„Wenn meine Freundin mir nicht glaubt, möchte ich nicht mehr mit ihr befreundet sein“.2
Synnies merken häufig schon früh, dass nicht jeder ihre Wahrnehmung teilt. Dabei wissen die meisten im jungen Alter noch gar nichts von Synästhesie.
Viele fühlen schon mal fremd und irgendwie allein mit ihrer Welt. Das kann ein Gefühl von Einsamkeit hervorrufen.3 Eine große Hilfe ist es vielen Synästhetikern, wenn sie schließlich von Synästhesie erfahren.
Nachteile bestimmter Synästhesie-Arten
Bei über 80 verschiedenen Synästhesie-Arten gibt es auch sehr viele Situationen im Alltag, die für Synnies einfach „zuviel“ sind und als Nachteil empfunden werden können.
Hier sind einige Nachteile, die häufiger von Synästhetikern einzelner Synästhesieformen genannt werden:
5. Irritationen, wenn Farben nicht passen
Das ist eins der typischsten Beispiele:
Jeder Synästhetiker, der Buchstaben, Zahlen, Wochentage usw. in Farben sieht, hat seine ganz eigenen Farbnuancen. Das bedeutet, dass das Farbset eines Synästhetikers nie absolut mit den Farben eines anderen Synästhetikers identisch ist.
Der eine sieht das „B“ in Dunkelblau, der andere in Violett. Selbst wenn das „A“ bei vielen Synnies Rot sein sollte, wird selten das ganze Alphabet farblich übereinstimmen.
Farb-Graphem-Synnies sind die Farbe Schwarz in der Regel als Schriftfarbe zum Lesen gewohnt. Für mich ist dieses Schwarz neutral und ich kann damit gut umgehen. Meine Synnie-Farben kommen einfach dazu, bzw. oben drauf.
Schwierig kann es werden, wenn etwas in bunten Farben geschrieben steht und dann nicht mit „meinen“ Farben übereinstimmt. Ich muss dann kurz umdenken.
Du kennst bestimmt diese Stroop-Tests mit den eingefärbten Worten, die nicht mit der beschriebenen Farbe übereinstimmen.
Wenn Du versuchst, schnell die Farbe der folgenden Wörter zu nennen, kann es sein, dass Du etwas länger brauchst:
Das irritiert nämlich auch Nicht-Synnies und ist in etwa vergleichbar ;- )
Diese Art der Verwirrung mit der „falschen“ Farbzuordnung kann auch in anderen Fällen auftreten, wie ich zum Beispiel hier bei der Farb-Graphem-Synästhesie beschrieben habe.
Beispiele:
a) U-Bahn-Linien sind ja nach U1, U2, U3 nummeriert. Und damit man auf dem Plan die Linien besser erkennen kann, hat jede Linie ihre eigene Farbe. Für Synästhetiker, die Zahlen in Farben wahrnehmen, passen die Linienfarben so gut wie nie zu den eigenen synästhetischen Zahlenfarben. Da steht man dann schon mal etwas länger davor.
Welche Farbe hatte die U-Bahn nochmal auf dem Linienplan?
b) Auch für Kinder mit Farb-Graphem-Synästhesie kann dieser Umstand irritierend sein, wenn die Farben ihrer Zahlen z.B. nicht zum Rechenergebnis passen. Ein Beispiel für ein Kind, das folgende Zuordnung hat:
2 = Gelb
5 = Blau
Zusammengezählt ist das Ergebnis 7.
Für das Kind ist:
7 = Rot
Wenn man wie im Kunstunterricht Gelb und Blau aber mischt, entsteht daraus ein Grün. Und die 7 ist für das Kind eben Rot, und nicht Grün.4
Hier fällt es vor allem Kindern nicht immer einfach (zumindest für die Schule) den eigenen Drang nach Stimmigkeit zu überwinden.
6. Unangenehme Synästhesien
Ja, es gibt sie:
In seltenen Fällen können Aspekte von Synästhesien tatsächlich als unangenehm oder widerlich empfunden werden.
Auch Attribute von Mitmenschen können Auslöser von unangenehmen Synästhesien sein. Obwohl die betreffenden Personen gar nichts dafür können. Das geht in seltenen Fällen sogar soweit, dass bestimmte Menschen gemieden werden.
Ein berühmtes Beispiel hat schon vor Jahren der Engländer James Wannerton gegeben. Er schmeckt Buchstaben, bzw. Wörter. Für ihn schmeckt der Name Derek nach ekligem Ohrenschmalz. Sein Kind würde er demnach niemals Derek nennen. Zum Glück gibt es aber auch „leckere“ Wörter in seinem Repertoire.
Weitere Beispiele:
a) Eine Frau hatte aufgehört, den Gottesdienst in der Kirche ihrer Eltern zu besuchen. Sie wollte sich einfach „nicht mehr mit [deren] grausam aussehender Musik quälen“.5 Den Grund hat sie ihren Eltern nicht wirklich sagen können.
b) Gerade bei der Synästhesie-Form OLP berichten viele Synnies von Zahlen- und Buchstaben-Kombinationen, die ihnen Unbehagen hervorrufen, weil sie einfach nicht zusammen passen („das geht gar nicht“). Wie das genauer aussehen kann, habe ich hier im Artikel zu OLP beschrieben.
7. Beim Lernen: Wenn Aussprache nicht zur Schreibweise passt
Viele Farb-Graphem-Synästhetiker sind sehr gut in Rechtschreibung. Sie nehmen zusätzlich zu den Wörtern und Buchstaben noch einen Farb- oder Bildeindruck wahr, der ihnen beim Erinnern der korrekten Schreibweise hilft. Ein Fehler springt dann oft förmlich ins Auge, weil etwas am Bild nicht stimmt. Diese Bilder machen es wiederum einfacher, Vokabeln zu lernen. Die meisten Farb-Graphem-Synästhetiker „sehen“ ihre Bilder auch, wenn sie Sprache und Wörter nur hören.
In dem Fall kann es zu Schwierigkeiten kommen, wenn ein Wort anders ausgesprochen wird als man es schreiben würde.
Wenn ich einen unbekannten Begriff in einer Fremdsprache zwar höre, aber die Schreibweise noch nicht gesehen habe, dann speichere ich eher das Lautbild ab. Es irritiert mich, wenn ich später sehe, dass die Schreibweise nicht zum Lautbild passt.
Das dürfte vielen bekannt vorkommen, die etwa mal Französisch gelernt haben:
Ein gesprochenes „O“ kann zum Beispiel „eau“, „au“, „ot“ oder „o“ geschrieben werden.
Das synästhetische Phonem-Bild passt hier nicht zum Graphem-Bild.6
Du siehst dann beim Sprechen z.B. die Farbe Hellblau für das „O“, musst dich dann im Geschriebenen aber noch mit z.B. Rotgrau für „AU“ auseinandersetzen. Damit entstehen zwei Bilder und das kann beim Lernen etwas verwirrend sein bis Du Dich daran gewöhnt hast.
Wie ist das bei Dir?
Gibt es etwas, das Du als Synnie als Nachteil empfindest?
Oder kennst Du jemanden, für den seine Synästhesie manchmal eine Herausforderung ist?
Schreib mir, wenn Dir noch etwas einfällt. Gerne auch zu den selteneren Synästhesien, die nicht in den häufigsten Top 25 auftauchen.