Synästhesie ist ein wirklich vielschichtiges Phänomen. Da ist es auch für die Wissenschaft gar nicht so einfach, Kriterien festzulegen, die auf alle Synästhesieformen zutreffen.
Es gibt einige Anhaltspunkte und Merkmale, die in der Regel vorhanden sein müssen, um aus wissenschaftlicher Sicht eine Wahrnehmung als synästhetisch einstufen zu können.
Die Kriterien von Richard E. Cytowic1
1. Synästhesie ist unwillkürlich und hat einen Auslöser.
Eine synästhetische Erfahrung wird durch einen Reiz oder äußeren Impuls ausgelöst und kann nicht unterdrückt werden. Es passiert automatisch.
2. Synästhesie hat einen räumlichen Bezug
Damit ist gemeint, dass es für einen Synästhetiker einen Ort am Körper, im Körper oder um den Körper gibt, an dem er seine Synästhesie als reale Erfahrung ausmachen kann. Eine aktive Vorstellung im Kopf ist etwas anderes und damit nicht gemeint.
3. Synästhetische Erfahrungen sind beständig und sind individuell einzigartig
Das bedeutet, dass die synästhetische Entsprechung zu einem Reiz sich im Laufe des Lebens nicht verändert.
Ein „S“, das immer Gelb war, wechselt nicht einfach zu Lila. Oder wenn der Klang einer Kirchturmglocke schon immer nach Vanille geschmeckt hat, wird er nicht plötzlich mal nach Erdbeere und ein anderes Mal nach Banane schmecken. Die Verbindung bleibt in der Regel ein leben Lang stabil und die Gleiche.
4. Synästhesie ist einprägsam.
Synästhetische Wahrnehmungen sind gut erinnerbar.
Ein Name hinterlässt bei mir zum Beispiel einen Farbeindruck. Auch wenn ich mich an einen Namen nicht erinnern kann, habe ich oft trotzdem einen Farbeindruck vor meinem Auge. Dann gehe ich das Alphabet durch und picke mir die Buchstaben heraus, die zum Farbeindruck passen. Damit komme ich dann normalerweise schneller auf den gesuchten Namen. In dem Fall war der Farbeindruck schon da, bevor ich den Namen dazu gefunden hatte.
5. Synästhesie ist emotional
Hier ist vorrangig die starke Überzeugung gemeint, dass für Synästhetiker das, was sie wahrnehmen Realität ist.
Neben dem Neurologen Richard E. Cytowic haben auch der Psychologe Simon Baron-Cohen und der Neurowissenschaftler John E. Harrison Kriterien und Merkmale für Synästhesien aufgestellt.
Die Eigenschaften von Baron-Cohen & Harrison2
1. Synästhesie ist bereits in der Kindheit vorhanden (schon vor dem Alter von 4 Jahren)
In der Regel geben Synästhetiker an, dass sie ihre synästhetischen Wahrnehmungen haben, seit sie sich erinnern können. Sie waren „schon immer da“.
2. Synästhesie hat mit Halluzinationen, Wahnvorstellungen und anderen psychotischen Phänomenen nichts zu tun
Dass synästhetische Wahrnehmung etwas anderes ist, ist selbsterklärend, denke ich.
3. Synästhesie ist auch von Bildern der Vorstellungskraft zu unterscheiden
Synästhetische Wahrnehmung passiert passiv und ist nicht mit Phantasien oder Gedanken zu vergleichen.
4. Angeborene Synästhesie wird nicht durch Drogen ausgelöst
Drogen können synästhetische Wahrnehmungen hervorrufen. Der „echte“ Synästhetiker braucht das nicht.
5. Synästhesie wird lebhaft und anschaulich empfunden
Für einen Synästhetiker sind die Erfahrungen lebendig, aktiv, klar und deutlich.
6. Synästhesie passiert automatisch und unwillkürlich
Dieser Punkt stimmt mit Cytowic überein. Ein Synästhetiker kann die Wahrnehmungen nicht unterdrücken.
7. Synästhesie wird nicht erlernt
Manchen Leuten hilft es, zum Lernen Buchstaben mit Farben zu verknüpfen. Oder Töne der Tonleiter mit Farben zu belegen. Sie versuchen auf diese Weise, sich später damit besser zu erinnern. Sie haben sich damit aktiv eine Art Eselsbrücke geschaffen. Es handelt es sich hier dann aber nicht um „klassische“ Synästhesie.
Die hier aufgelisteten Merkmale von Synästhesien wurden bereits in den 1990ern definiert.
In der Zwischenzeit ist in der Synästhesieforschung einiges passiert und es sind auch neue Synästhesieformen entdeckt worden. Auf Gefühlssynästhesien oder die relativ neu entdeckte „One-Shot-Synästhesie“ treffen die Merkmale z.B. nicht ganz zu.
Wie eingangs gesagt:
Es ist nicht einfach, Merkmale für Synästhesien in eine Definition zu packen.
Da wird es sicherlich in Zukunft noch Anpassungen geben.
- vgl. Cytowic* 2002: 67ff.
- vgl. Baron-Cohen/Harrison* 1997: 7
Mustafa meint
Ich bin Mustafa in Berlin und ich kann jedes wort mir gesagt wurde zu ein andere Form oder Bewegung oder Bild beschreiben(passiert automatisch in mein Kopf) total anders als normale Bedeutung.
Heike meint
Hallo Mustafa,
Das klingt gleich nach mehreren Synästhesieformen ;- )
Willkommen auf dieser Seite!
Viele Grüße,
Heike
(15.10.2022)
Temelli meint
hallo allerseits,
ich heiße hüseyin und komme auch aus Berlin,
habe auch das selbe plus für mich haben zahlen und buchstaben geschlechter, alter und Charaktere. fotografisches gedächtnis in form von bildern mit farb und form gefühl ,ich erkenne menschen auch nach jahren wieder wenn ich sie auch komplett verändert sehe ,auf bildern videos oder life.
würde mich gerne diesbezüglich austauschen.
grüsse
Heike meint
Hallo Temelli,
willkommen!
Wir haben über die Deutsche Synästhesie-Gesellschaft immer wieder regionale Treffen, bei denen man sich nach Herzenslust mit anderen SynästhetikerInnen austauschen kann.
Ich war jetzt am Wochenende erst wieder auf einem Treffen in Regensburg und komme jedes Mal wieder in diese Synnie-Blase, aus der ich dann erstmal nicht mehr herauskommen mag.
;- )
Hier ist der Link zur DSG:
Deutsche Synästhesie Gesellschaft
Falls du Fragen oder Ideen hast, kannst du sie aber auch gerne in die Kommentare schreiben.
Viele Grüße,
Heike
(27.02.2024)
Nika meint
Hallo,
Bei mir haben Zahlen und zum Teil auch Wörter ein Geschlecht und eine Persönlichkeit, aber es macht sich nicht beim Rechnen oder so bemerkbar. Ich muss dran denken. So weis ich die ganzen Persönlichkeiten der Zahlen von 0-9, aber wenn jetzt irgendwo steht: 9 von 10 Zahnärzten empfehlen das und das, denke ich noch automatisch an die stille 9 und die fürsorgliche 10.
Außerdem gibt es ein paar Buchstaben und zahlen die bestimmte Farben haben, aber da muss ich wirklich aktiv dran denken.
Kann mir da jemand helfen?
Liebe Grüße
Heike meint
Hallo Nika,
willkommen!
Das klingt nach OLP (ein Beitrag z.B. hier) und nach Graphem-Farb-Synästhesie.
Meintest du das mit helfen?
Liebe Grüße,
Heike
(22.08.2024)
Nika meint
Ja, vielen dank!!!
Heike meint
Gerne!
Jutta meint
Hallo!
Wenn mir jemand einen körperlichen Schmerz beschreibt ( auch wenn dieser lange her ist) empfinde ich einige Sekunden einen starken körperlichen Schmerz, der meinen gesamten Körper durchfährt, so schnell wie ein Blitz.
Heike meint
Hallo Jutta,
das klingt sehr unangenehm.
Ist es genauso intensiv, wenn du z.B. einen Film schaust und da jemand körperlichen Schmerz erfährt?
Das „Anschauen“ von jemandem, der Schmerz verspürt empfinde ich z.B. schlimmer als eine Beschreibung davon. Aber das ist wahrscheinlich auch individuell verschieden.
Viele Grüße,
Heike
(20.10.2024)
AnnaLena meint
Hallo,
Ich wollte mal fragen nach was das für euch klingt:
Jede Person die ich sehe, hat eine art „Aura“ aber erst sobald sie mit mir spricht. Die Farbe ist individuell und wie eine Nebelkugel um die Person herum.
Ich sehe Farben (in punkten oder formen) wenn ich Gefühle von anderen Personen wahrnehme, weiss aber meistens nicht was sie bedeuten.
Wenn ich Filme schaue oder Leute anschaue die schmerzen haben (oder andere starke Emotionen) wird die stelle warm und ich fühle den Schmerz, so wie er beschrieben wird, oder die Emotion und mein Kopf und Brustkorb wird warm.
Ich bin erst vorgestern auf den Begriff Synästhesie gestossen (mache eine Abklärung ASS&ADS) und meine Psychologin meinte es klingt für sie nach Synästhesie…
Ich bin vor allem unsicher, weil ich Farben nur etwa drei Tage die Woche sehe, und sobald es dämmert, bis in die Nacht.
lG, AnnaLena
AnnaLena meint
Ich habe noch etwas vergessen: Die Farbe einer Person kann sich auch ändern, wenn die Person sich ändert.
Beispiel:
Eine Kollegin hatte immer eine Eisblaue Nebelwolke mit Fliederfarbenen schlieren.
Eisblau assoziiere ich mit Perfektionismus, Flieder mit einer art Bodenständigkeit-da-sein/kümmern.
Jetzt Ignoriert sie mich (lange Geschichte) und ihre „Aura“ ändert sich immer mehr ins Eisblau-Silberne.
Ich hoffe das wahr so verständlich 😅
Heike meint
Ja, das kenne ich auch.
Ob das rein auf Synästhesie zurückzuführen ist oder eventuell mit einer erweiterten Wahrnehmung (da gibt es ja so viel) zu tun hat, kann ich leider nicht sagen.
Aber ich stelle fest, dass du in der kurzen Zeit schon voll in die Eigenbeobachtung gegangen bist ;- )
Da wirst du wahrscheinlich noch mehr entdecken.
Viele Grüße,
Heike
(3.11.2024)
Heike meint
Hallo AnnaLena,
herzlich willkommen bei uns!
Du meinst, ob das, was du wahrnimmst Synästhesien sein könnten?
Deine Beschreibungen könnten durchaus dazu passen.
Vor allem die Verknüpfungen mit Farbe, die unter Synästhesien mit am häufigsten ist.
Die Schmerz- oder Emotionswahrnehmung könnte mit Mirror-Touch/Mirror-Pain-Synästhesie verbunden sein oder auch mit einer ausgeprägten Empathiefähigkeit, Spiegelneuronen o.Ä. zu tun haben. Ich denke, dass sich da viele Bereiche auch vermischen und sich nicht immer alles klar abgrenzen lässt.
Wenn du erst vorgestern das erste Mal von Synästhesie gehört hast, ist das wahrscheinlich erstmal überwältigend.
Da hilft nur:
Lesen, recherchieren, erkunden, beobachten ;- )
Eventuell helfen dir die Tests und Informationen auf dieser Seite schon weiter.
Klasse aber, dass deine Psychologin mit dem Begriff vertraut ist. Das ist (noch) nicht selbstverständlich.
Das mit den 3 Tagen die Woche habe ich nicht ganz verstanden.
Meinst du, du hast für 3 Tage die Woche eine Farbe? Also eine Sequenz-Raum-Synästhesie?
Viel Spaß erstmal beim weiteren Erforschen!
Herzliche Grüße,
Heike
(3.11.2024)