Bis vor kurzem hatte ich noch nie etwas von ASMR gehört. Der Begriff ist mir aufgefallen, als ich allgemein nach Neuigkeiten zum Thema Synästhesie gesucht habe.
Dabei erfährt dieses Phänomen seit einigen Jahren vor allem im Internet einen regelrechten Hype!
ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response, was mit etwa „sensorisch kulminierte autonome Antwort“ übersetzt werden könnte.
Beschrieben wird ASMR als ein kribbelndes Erlebnis, das typischerweise über die Kopfhaut und den Nacken bis zu den Schultern gehen kann und ein Wohlgefühl hervorruft.
Auslöser
Auslöser für dieses Kribbeln sind hauptsächlich Geräusche, ruhige Stimmen, bzw. Flüstern, Aufmerksamkeit oder langsame Bewegungen.
Wenn Du die Abkürzung „ASMR“ bei Youtube eingibst, bekommst Du eine Fülle von Videos zur Auswahl, die zum Beispiel zeigen, wie jemand genüsslich ein paar Chips knuspert, sich geräuschvoll die Haare kämmt oder Gummihandschuhe rascheln lässt.
Der Fokus liegt hier meist auf dem Geräusch, das erzeugt wird, wenn jemand langsam in steter Wiederholung eine Handlung ausführt. Die Umgebung muss außerdem ruhig und sicher sein.
Inmitten einer belebten Fußgängerzone funktioniert das Ganze also eher nicht.
Nicht zu verwechseln ist ASMR übrigens mit dem wohligen Erschaudern, wenn Dich zum Beispiel ein Musikstück emotional erfüllt oder eine Rede so erfasst, dass Du Gänsehaut bekommst.
ASMR ist auch von sexueller Erregung zu unterscheiden (auch wenn im Englischen öfter von head orgasm oder braingasm die Rede ist).
ASMR ist weniger „elektrisch“ und eher entspannend, nicht aufregend.
Wie viele Leute erleben ASMR?
Im Jahr 2014 haben bei einer (zugegeben) sehr kleinen Umfrage1 von 91 Teilnehmern 53 Personen geantwortet, dass sie ASMR bereits einmal erlebt haben. Das sind über 50 % und ganz schön viel, wie ich finde.
Wenn sich über 2 Millionen Leute dazu entscheiden, ein Video zu schauen, in dem jemand Handtücher faltet, muss da also etwas Interessantes dran sein.
Hat ASMR einen Nutzen?
Im Jahr 2018 überwachten Forscher ihre Probanden mittels einer Herzfrequenzmessung während sie ASMR-Videos schauten.
Unter den Teilnehmern waren sowohl Personen, die angaben, regelmäßig das Kribbeln zu erleben, als auch Personen, die dies verneinten.
Das Ergebnis:
Bei allen (!) Teilnehmern verringerte sich die Herzfrequenz und sie gaben an, sich entspannter und weniger gestresst zu fühlen. Außerdem verbesserte sich ihre Stimmung, was auch Stunden später noch nachweisbar war.
Bei den Teilnehmern mit ASMR-Erfahrung war dieser Effekt aber nochmal signifikant höher.
Auch Personen mit chronischen Schmerzen konsumieren die Videos gerne. Nicht unbedingt, weil es die Schmerzen verringert, sondern weil es sie ablenkt und es sie gut fühlen lässt.
Forscher haben nun die Hoffnung, dass sich dieses Phänomen flächendeckend therapeutisch einsetzen lässt. Vor allem zur Stressbewältigung oder als Einschlafhilfe.
Hat ASMR etwas mit Synästhesie zu tun?
Seit 2010 existiert der Begriff ASMR. Noch können Forscher aber gar nicht genau sagen, was es eigentlich ist. Im Jahre 2014 gab es schließlich die ersten Studien zu diesem Thema. Die Forschungslage dazu ist also noch sehr jung.
Emma Barratt und Nick Davies haben für eine der ersten Studien insgesamt 475 Probanden zu ASMR interviewt.2 Alle Teilnehmer kannten das typische Kribbeln und waren daher in die Studie einbezogen worden.
Unter anderem sollte überprüft werden, ob es eine Verbindung zur Synästhesie gibt.
Von den 472 Probanden gaben 5,9 % an, Synästhetiker zu sein.
Was für eine synästhetische Verbindung spricht
Die Forscher schreiben, dass das durch ASMR ausgelöste positive Wohlgefühl möglicherweise eine Form von Sound-Emotion-Synästhesie sein könnte.
Zum Beispiel wenn das Streichen über einen Kamm eine Emotion auslöst.
Auffällig ist auch die Ähnlichkeit zur Mirror-Touch-Synästhesie oder Sound-Touch-Synästhesie, die jeweils beim Konsumieren der entsprechenden Videos ausgelöst werden kann.
Wenn zum Beispiel jemand am eigenen Kopf spürt, wenn er sieht, wie einem Baby liebevoll über den Kopf gestreichelt wird.
Oder wenn jemand das Klackern von Fingernägeln auf der Tastatur als ein Klopfen auf seinen Schultern fühlt.
Es könnte also sein, dass ASMR als eine eigene Form zu den Synästhesie-Arten zählt.
Ähnlich wie bei Synästhetikern gehen Personen mit ASMR auch oft davon aus, dass dieses Empfinden jeder kennt oder sie die einzigen sind, die das erfahren.
Das ist aber eher der Tatsache geschuldet, dass dieses Phänomen noch nicht sehr bekannt ist.
Was gegen eine synästhetische Verbindung spricht
Es wird im Internet teilweise dafür geworben, dass jeder bei entsprechender Vorbereitung das typische Kribbeln erfahren kann – was gegen eine synästhetische Kopplung spricht.
Synästhesie kann nicht einfach erlernt werden. Die Verbindungen im Gehirn sind da, oder eben nicht.
Außerdem schwächt sich bei steter Nutzung von ASMR-Auslösern der Kribbel-Effekt ab. Wer sich also daran gewöhnt hat, spürt mit der Zeit weniger.
Für Synästhetiker wird in der Regel aber auch das millionste Geräusch eines raschelnden Gummihandschuhs zum Beispiel ein synästhetisches Bild hervorrufen.
Die Forscher weisen selbst darauf hin, dass mehr Datenmaterial nötig sei, um eine mögliche Verbindung zur Synästhesie genauer zu erforschen. Laut Studie könnte es je nach Auslegung ein Bezug dazu geben oder eben nicht.
Fazit
Ich selbst kann mit ASMR (noch?!) nicht so richtig etwas anfangen. Was ist mit der gegenteiligen Form, also wenn es nicht angenehm ist?
Zum Beispiel jagt mir das Quietschen von einem schneidenden Messer auf Porzellan oder das Ziehen von Fingernägeln auf einer Tafel – neben dem synästhetischen Bild dazu – ebenfalls einen heftigen Schauer über Kopf und Rücken. ASMR ist das nicht.
Das sind Geräusche, die ich nicht mag und gegen die ich (wie wohl die meisten Menschen!) eine Abneigung habe.
Diese Abneigung gegen bestimmte Geräusche wird im Allgemeinen auch als „Misophonie“ bezeichnet.
Die beiden Forscher Barratt und Davies äußern sich dazu wie folgt:
„Es könnte sein, dass ASMR und Misophonie die beiden Enden eines Spektrums von synästhesie-ähnlichen emotionalen Reaktionen sind.“3
Das würde bedeuten, dass beides mit Synästhesie zu tun haben könnte. Da die Forschung zu ASMR noch sehr jung ist, bleibt es spannend, was zu diesem Thema zukünftig noch herausgefunden wird.
Kennst Du ASMR?
Kannst Du dieses Kribbeln nachvollziehen?
Wenn Du Dich mehr mit diesem Phänomen beschäftigen möchtest, findest Du bei der englischen Webseite ASMR University einiges an Informationen.
Seit 2018 gibt es auch ein fundiertes Buch zu ASMR* („Braintingles„, auf Englisch).
Und Videos dazu sind– wie gesagt – zuhauf auf YouTube zu finden.
Quellen:
– https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4380153/ (Zugriff 2.08.2019)
– https://www.newscientist.com/article/mg24032020-300-the-truth-behind-asmr-and-the-craze-for-videos-causing-head-orgasms/ (Zugriff 11.09.2019)
– https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-319-45264-7_15 (Zugriff 11.09.2019)
– https://www.zeit.de/digital/2018-03/asmr-videos-youtube-entspannung-tingles (Zugriff 13.09.2019)
- vgl. Poerio 2014: 120
- vgl. Barratt/Davies 2014
- vgl. Barratt/Davies 2014:
„It may be the case that ASMR and misophonia are two ends of the same spectrum of synaesthesia-like emotional responses.“
Andreas meint
Ein Gedankenspiel: Kann es sein, dass vielleicht jeder Mensch über „Basis“-Synästhesien verfügt? Da ja unangenehme Geräusche oder Gerüche entsprechende Emotionen hervorrufen. Damit wäre das eine mögliche Grundlage, auf der alle weiteren Synästhesien aufbauen könnten. Das wäre also ein möglicher Grund, warum sie überhaupt existieren können.
Wobei die Tatsache, dass Synästhesien permanent und gleich intensiv sind, würde auch meiner Meinung nach dagegen sprechen.
Ich möchte vielleicht auch noch ergänzen, dass ASMR sich nicht nur auf akustische Trigger beschränkt. Es gibt auch das Konzept von „visual triggers“. Ich spreche z. B. eher auf letzteres an, generell aber auch eher selten.
Heike meint
Hallo Andreas,
man muss zwischen Assoziationen, Ankern und echten Synästhesien unterscheiden, aber ja:
ich bin auch der Ansicht, dass jeder Mensch mit „Basis“-Synästhesien ausgestattet sein könnte, bzw. damit ausgestattet war.
Dazu gibt es auch die Theorien, dass der Mensch bei der Geburt noch keine differenzierte Unterteilung in die Wahrnehmungskanäle hat, sondern diese erst im Laufe der Zeit erlernt und ausbildet.
Gleich intensiv sind (zumindest meine) Synästhesien nicht immer, aber es ist immer die gleiche Verkopplung und ändert sich auch über die Jahre nicht (z.B. das Bild des dunklen Geschmacks von zu viel Salz im Essen).
In Bezug auf ASMR habe ich mich noch nicht mit „visual triggers“ auseinandergesetzt.
Danke aber für den Tipp!
Viele Grüße,
Heike
(5.10.2022)